Hintergründe
Martynas Levickis

Autograph

Martynas Levickis © Robertas Riabovas
© Robertas Riabovas
Digitales Programmheft

Martynas Levickis

Dienstag, 20. Februar 2024 | 19:30 Uhr | Elbphilharmonie, Kleiner Saal

Programm

Martynas Levickis (*1990)
The Rain

 

Philip Glass (*1937)
Etüde Nr. 2
Etüde Nr. 3
Etüde Nr. 6
(Arrangement: Martynas Levickis)

 

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816
(Arrangement: Martynas Levickis)

I. Allemande
II. Courante
III. Sarabande
IV. Gavotte
VI. Loure
VII. Gigue
 

Franck Angelis (*1962)
Impasse

II. Andante doloroso
III. Adagio sostenuto
I. Allegro ritmico

 

Frédéric Chopin (1810–1849)
Walzer cis-Moll op. 64 Nr. 2
(Arrangement: Martynas Levickis) 

 

Martynas Levickis 
Fünf litauische Volkslieder

I. Lieliumoj
II. Šiu namo (Heimweh)
III. Palinko liepa šalia kelio (Die Linde, geknickt, am Wegesrand)
IV. Beauštanti aušrelė (Der Morgen bricht an)
V. Rūta žalioj (Die grüne Raute)

 

Zugabe: 
Frédéric Chopin, Prélude e-Moll op. 28 Nr. 4 (Arr.: Martynas Levickis)

Besetzung

Martynas Levickis Akkordeon

Martynas Levickis © Sebastian Madej
© Sebastian Madej

Autograph

Spätestens seit seiner OPUS KLASSIK-Auszeichnung als Instrumentalist des Jahres 2023 hat sich Martynas Levickis einen festen Platz auf der Klassik-Landkarte erobert. Und das, obwohl sein Instrument ein echter Exot ist. Doch wen kümmern Klischees vom zopfigen, volkstümelnden Schunkelinstrument Akkordeon? Spätestens wenn Martynas Levickis seine „Zauberkiste“ in allen Klangfacetten zum Funkeln bringt, sind solche Vorstellungen wie weggefegt. In Hamburg präsentiert der junge Litauer ein abwechslungsreiches Programm mit Herzenswerken von Johann Sebastian Bach über Philip Glass bis hin zu eigenen Kompositionen – die musikalische Visitenkarte eines Ausnahmetalents.

 

Karsten Blüthgen sprach mit dem Künstler über sein Programm.

„Was für ein geniales Stück!“

Die Klangwelten von Philip Glass bringt man für gewöhnlich nicht mit dem Akkordeon in Verbindung. Trotzdem haben Sie seine Etüden auf Ihr Programm gesetzt.

 

Schon als Kind war ich ein Fan der Musik von Philip Glass. Und zu wissen, dass er litauische Wurzeln hat, macht die Verbindung noch stärker. Begonnen hat alles vor ein paar Jahren, als ich seine Etüde Nr. 6 auf dem Klavier hörte und dachte: „Was für ein geniales Stück, das will ich spielen!“ Nach einer Woche hatte ich es bereits ins Konzertprogramm aufgenommen. Später fing ich an, weitere Etüden auszugraben und dachte mir, ich könnte eine kleine Suite daraus machen. Und die kommt nun auch in Hamburg mit auf die Konzertbühne.

Bitte ernst bleiben!

In Bachs Leipziger Kantorenwohnung gab es mehrere Cembali, ein „Lautenclavier“ sowie ein Clavichord – ein Spiegel für die enorme Bedeutung, die Tastenmusik in Bachs Leben hatte. Hinein fallen die sechs Französischen Suiten, komponiert 1722–24. Bach, noch Kapellmeister in Köthen, widmete sie seiner zweiten Frau Anna Magdalena. Welche Rolle spielt Bach für Sie als Akkordeonist?

 

Hinsichtlich geistiger Anregung ist Bach für mich der absolute Spitzenreiter. Ich weiß nicht genau, warum, aber wenn es darum geht, Bach zu spielen, habe ich durchaus Angst. Ich weiß noch, wie mein Musiklehrer meinte, ich müsse Bach mit ernster Miene spielen. Und diese Haltung verfolgte mich, um ehrlich zu sein, bis vor Kurzem, als ich beschloss, nach einem heiteren Bach zu suchen und nach etwas, das er in einer Dur-Tonart geschrieben hatte. Interessanterweise waren alle meine früheren Studien über Bach immer in Moll. Und so fand ich die Französische Suite Nr. 5 – transparent, hoffnungsvoll und heiter. Möglicherweise wirkt meine Herangehensweise etwas despektierlich, aber ich höre einen Großteil des Inhalts, als würde ein betrunkener Geigenspieler seine Freunde in der Kneipe unterhalten. Es hat in den schnellen Sätzen diese Art von fröhlichem Tanz-Appeal, den ich persönlich erfrischend und in gewisser Weise revolutionär finde. Es hilft mir, meine Angst, Bach zu spielen, zu überwinden – meistens jedenfalls. Zugleich sind die langsamen Sätze einfach schön, verträumt und mitreißend. Das Verhältnis ist perfekt.

Leicht und schwebend

Was verbinden Sie mit Franck Angelis?

 

Franck Angelis ist ein Akkordeonist, der vor allem für seine Kompositionen für Akkordeon bekannt ist. Neben vielen kurzen Konzertstücken hat er Impasse geschrieben, eine Suite oder genauer gesagt eine Sonate. Dieses Werk wurde nach dem Tod seines Neffen komponiert, und es ist von Melancholie und einer dramatischen, tragischen Stimmung durchzogen. Ich bedaure, dass ich Franck Angelis noch nicht kennengelernt habe, obwohl ich seine Musik recht gut kenne und schätze. Ich finde, die Akkordeonwelt braucht auch im 21. Jahrhundert diese Art von Musik, die noch die traditionelle Harmoniesprache enthält. Angelis kennt das Instrument wirklich gut und bringt seine schönsten Eigenschaften hervor. Er schreibt auch technisch sehr anspruchsvoll – Impasse ist schon eine große Herausforderung, insbesondere die schnellen Sätze.

 

 

Warum? Man stellt sich ja vor, Minimal Music sei leicht zu spielen …

 

Das Stück kann einen körperlich und geistig auslaugen. Die Sprache der minimalistischen Musik in diesem Stück kann den Eindruck erwecken, es sei einfach. Aber das Werk stellt den Interpreten vor besondere Herausforderungen, die viel Arbeit erfordern. Da sind zunächst die technischen Anforderungen: die Balgschüttelungen, die rhythmischen Figuren in beiden Händen, die komplexen Texturen und die Taktwechsel. Und schließlich ist nichts davon wirklich wichtig, denn es muss leicht und schwebend klingen.

Martynas Levickis © Robertas Riabovas
© Robertas Riabovas

Naturklänge

Welche Bedeutung besaß Volksmusik Litauens in Ihrem Leben und allgemein im Land, wie ist es heute?

 

Früher gab es kein Treffen ohne ein Volkslied, und ich bin froh, dass ich das zumindest teilweise miterleben durfte. Heute ist alles anders; wir sind sehr modern, hektisch und multikulturell geworden. Als ich mit dem Akkordeonspielen begann, spielte ich ein paar Volkslieder und Tänze nach Gehör. Ich bin froh, dass zwei der Lieder in mir geblieben sind und jetzt auch zu meinem Kontertrepertoie gehören: Šiū namo und Palinko liepa. Beide sind ziemlich melancholisch, wie übrigens die meiste litauische Volksmusik.

 

Als Kind verbrachte ich meine Sommer und andere Ferien in unserem Sommerhaus, das mitten in den Wäldern Nordlitauens lag. Dort bin ich oft spazieren gegangen und habe mit meinem Akkordeon im Wald gespielt, und die Vögel, die zitternden Bäume, den Wind imitiert … Schon damals habe ich diese Motive in meine Kompositionen, in meine Volkslieder eingebaut. Und in der Nähe, vielleicht einen Kilometer entfernt, hatten wir eine Nachbarin, eine reizende ältere Dame, die ein sehr asketisches Leben führte, wie ich es noch nie gesehen hatte. Sie hatte nur ein kleines Häuschen und weder moderne Ausstattung noch einen Fußboden. Das Haus hatte einen Lehmboden – eine sehr authentische und alte Lebensweise. Manchmal besuchte ich sie auf meinen Wanderungen und wir verbrachten Zeit miteinander. Ich bin froh, dass ich diese Art zu leben aus erster Hand erfahren habe; die Erinnerungen sind noch sehr lebendig in mir – wie ihre großen braunen Augen. Und diese Frau hat mir eines Tages das Lied Šiū namo beigebracht – was wörtlich „Komm nach Hause“ bedeutet, allerdings klingt die Übersetzung ungenau und zu heiter.

Ich bin froh, dass ich diese Art zu leben aus erster Hand erfahren habe; die Erinnerungen sind noch sehr lebendig in mir.
Martynas Levickis

Das klingt nach typischer Weitergabe von Volksmusik. Wovon handelt das Lied?

 

In dem Lied geht es um die Sehnsucht, nach Hause zurückzukehren, und um die Schwierigkeiten, dies zu erreichen, denn zu Zeiten von arrangierten Ehen musste ein Mädchen zur Familie des Jungen ziehen, manchmal sogar sehr weit weg von ihrem ursprünglichen Familienort. Als ich dieses Lied arrangierte, wollte ich also auch zu meiner Kindheit zurückkehren, zu dem Sommerhaus und zu der kleinen Hütte, wo diese Frau lebte.

 

 

Spiegelt sich die Erinnerung in Ihrem Arrangement?

 

Ich verwende den musikalischen Krebsgang, um Rückwärtsbewegung einzuführen. Zunächst wird das Thema so gehört, wie es ist, anschließend vollkommen rückwärts. Dann verflechten sich beide Themen zu einer einem Kanon ähnelnden Passage, die in der litauischen Tradition „Sutartinės“ genannt wird: eine komplexe mehrstimmige Satzstruktur, die auch schwere Dissonanzen einführt.

Erzählen Sie mir mehr über die anderen Arrangements litauischer Volkslieder! Da sind die melancholischen Stücke „Leliumoj“ und das erwähnte „Palinko liepa“. Da ist „Rūta žalioj“, das melancholisch beginnt, dann eine große, von Streichern befeuerte Steigerung erfährt. Und da ist „Beauštanti aušrelė“ (Der Morgen bricht an), das eine aufregende Geschichte zu erzählen scheint, bevor es in höchsten Tönen entschwindet, vom Winde verweht …

 

Palinko liepa ist ein Abschiedslied, in dem sich eine Mutter von ihrem Sohn verabschiedet, bevor er in die Schlacht zieht, um sein geliebtes Heimatland zu verteidigen. Es ist kein sehr altes Lied, möglicherweise wurde es während der Besetzung Litauens im letzten Jahrhundert geschrieben. Es ist geprägt von patriotischem Appell. Dennoch empfinde ich dieses Lied als traurig. Wenn ich es aufführe, muss ich oft meine Tränen zurückhalten.

 

Leliumoj ist ein Winterlied, manche würden sagen ein Adventslied, und erzählt die Geschichte eines Mädchens, das von seinem Stiefvater aufgefordert wird, barfuß zu gehen und im Winter unmögliche Aufgaben zu bewältigen: das Waldfeuer zu finden, das schäumende Meerwasser, den Schnee des Sommers zu holen usw. Auf dem Weg dorthin trifft sie ihren richtigen Vater, der ihr mit seiner Weisheit hilft, das Unmögliche zu bewältigen.

 

Die anderen zwei Lieder sind ausführlicher; ich habe sie in Form von Variationen komponiert. Rūta žalioj ist ein Arbeitslied – ein Genre, das es in der litauischen Volksmusik gibt. „Rūta“ ist eine Pflanze, eine grüne Raute, die oft die Jungfräulichkeit symbolisiert. In diesem Fall handelt das Lied von einem jungen Bauernmädchen, das nach Tagen harter Arbeit müde ist und nach Hause zu ihrer Familie zurückkehren möchte. Da sie jedoch nicht gehen darf, bittet sie den Mond und die Sterne um Hilfe, um sich zu befreien.

 

Beauštanti aušrelė ist mein Lieblingslied aus Litauen. Es ist sozusagen ein Hochzeitslied und erzählt auch vom dramatischen Schicksal eines Mädchens, das eines Morgens sehr früh geweckt wird und sich auf die Ankunft der jungen Männer – des vermeintlichen Bräutigams und seiner Brüder – vorbereiten muss, die sie mitnehmen wollen. Ich bin jedoch der Meinung, dass dieses Lied zahlreiche andere Symbole und Bedeutungen haben kann; man kann es als den Kreislauf des Lebens sehen und hören, als eine Geschichte über einen Tag oder als einen Einblick in eine Beziehung, die sanft begann, sich dramatisch entwickelte und dann ins Nichts verblasste. In diesem Lied beziehe ich mich auf einige Motive aus meiner Kindheit im Sommerhaus, den Wind, das Rauschen der Bäume, den Gesang der Vögel, die man am Ende sehr deutlich hören kann.

Zu guter Letzt ...

Ist Ihr Konzertprogramm auch ein Statement?

 

Ich hoffe, dass es tatsächlich mein Statement als Akkordeonist sein kann, mit den Klangfarben und Tönen des Instruments, das ich am meisten liebe – minimal und doch kraftvoll, mit eindrucksvollen Texturen, komplexen Rhythmen, schwebenden Melodien und gefühlvollen Harmonien. Aspekte, die in der modernen Akkordeonwelt oftmals verlorengehen …

 

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Accentus Music

 

www.martynasmusic.com